Teil 2: Spuren im SandGruscha schreckte auf. Sie fühlte sich wie gerädert und ein kurzer Moment der Orientierungslosigkeit wurde von der bitteren Erkenntnis abgelöst, dass sie wirklich unter der Erde in einem Pumpenraum der Kanalisation kauerte. Es musste noch mitten in der Nacht sein. Das Feuer war runtergebrannt, ein paar Holzscheite glimmten noch leicht. Vlädds Schnarchen übertönte alle anderen Geräusche. Leise stand sie auf und zog die Decke um ihre Schultern. Es war frisch geworden. Sie schlich aus dem Pumpenraum und ging langsam zum Tor. Scheinbar hatte sie doch einige Stunden geschlafen, denn der Morgen dämmerte.
Es war völlig still als sie neben Elenia trat. Scheinbar musste noch eine Wachablösung stattgefunden haben von der sie nichts mitbekommen hatte. Der Himmel war in Rot- und Blautöne gefärbt, die stellenweise zu einem Lila verschmolzen. Der Anblick der langsam aufgehenden Sonne lies sie für einen Moment die grauenhaften Ereignisse der letzten Nacht vergessen. „Wie geht es dir?“ Elenias Stimme holte sie in die Realität zurück. „Die Köter haben mich gestern zu Tode erschreckt.“, Gruscha setzte sich neben Elenia auf den Steinhaufen.
Sie saßen ein Weile schweigend nebeneinander und beobachteten den Sonnenaufgang. „Es ist ungewöhnlich!“, Elenia sprach in einem unbestimmten Ton. „Was?“, Gruscha kannte die Antwort darauf schon. „Vlädd meinte zwei von den Viechern haben den Rückzug angetreten. Normalerweise greifen sie doch ohne Verstand an und stürzen sich im Zweifel alle in den Tod.“ Elenia machte eine kurze Pause: „Außerdem suchen sie sich im allgemeinen leichtere Ziele. Allein umher streifende Menschen oder so.“ Gruscha hatte letzte Nacht auch überlegt, warum diese Kreaturen ausgerechnet hier und scheinbar so gezielt und überlegt angegriffen hatten. „Vielleicht täusche ich mich und so eine Nachtwache bietet genug Zeit für abwegige Gedanken, aber trotzdem kommt mir dieser Angriff sonderbar vor.“ Elenia sah Gruscha bei den letzten Worten prüfend an.
„Ich glaube ich habe gestern Nacht dort draußen jemanden gesehen.“, Gruschas Blick ging in die Ferne, dem Sonnenaufgang entgegen. „Er war plötzlich verschwunden und die beiden anderen Hunde sind ihm wohl gefolgt.“ - „Du meinst, dass jemand diese abartigen Mutanten gezähmt hat?“, Elenia klang ungläubig obwohl auch sie ihre Zweifel an der Zufälligkeit des Angriffs hatte. „Ich weiß nicht. Aber so unglaublich es auch klingt, es wäre zumindest eine Erklärung für das seltsame Verhalten der Hunde.“, Gruscha hatte den Blick mittlerweile gesenkt. „Ich werde nachher einmal suchen, vielleicht kann ich eine Spur finden die meine Vermutung bestätigt.“ - „Was hoffst du denn zu finden? Meinst du es hat einen Brief hinterlassen?“, Elenia klang immer noch ungläubig.
Nach einer längeren Pause antwortete Gruscha vorsichtig: „Ich weiß es nicht! Du hast das seltsame Verhalten doch auch bemerkt. Dafür muss es doch eine Erklärung geben. Aber bitte Elenia, kein Wort zu Vlädd! Er versteht so etwas nicht.“ Sie richtete ihren Blick nun auf Elenia. „Ich werde es für mich behalten. Ich glaube zwar nicht, dass du etwas finden kannst, aber ich werde dich vorsichtshalber begleiten.“ - „Ruh dich etwas aus! Ich übernehme den Rest deiner Wache.“
Ohne ein weiteres Wort verschwand Elenia. Langsam ging die Sonne auf und beleuchtete die Überreste einer Stadt. Der Name war mit den Einwohnern durch die Apokalypse von der Landkarte getilgt worden. Allerdings gab es hier viele unterirdische Bunkeranlagen. Scheinbar hatten die Menschen dieser Stadt den nahenden Untergang bemerkt und versucht sich vorzubereiten. Als er dann tatsächlich eintraf, unbarmherzig und plötzlich, war trotzdem so gut wie niemand wirklich darauf vorbereitet. Nur die unterirdisch angelegten Vorräte der Metropole zeugten noch davon, dass in diesen Ruinen einmal Menschen gelebt hatten. Es war mühselig nach Bunkereingängen zu suchen aber sie waren auf die Vorräte angewiesen und so durchkämmte die Gang am Tag, Straße für Straße, langsam diese riesige Stadt.
Bisher waren sie dabei nur auf einige vereinzelnd umherstreunende Genmutationen getroffen mit denen sie leicht fertig geworden waren. Die wirklich erschreckenden Wesen kamen erst in der Nacht aus ihren Löchern. Während Gruscha sich so ihren Gedanken hingab, ging die Sonne schließlich ganz auf und sie beschloss zu den anderen zurück zu kehren.
Elenia hatte sich in eine Decke gehüllt und schlief. Yuri war gerade dabei das Feuer etwas anzuheizen und hatte einige Konservendosen ohne Etikett neben sich hingestellt. Bestimmt würden es wieder Bohnen sein. Schweigend griff Gruscha ein Messer und begann die Dosen zu öffnen. Der Rest der Meute lag oder hockte verstreut und noch recht verschlafen in dem Pumpenraum.
Nach und nach kamen alle und aßen schweigend ihr Frühstück, welches tatsächlich aus Bohnen bestand. Es wurde Zeit, dass sie wieder einmal einen neuen Bunker fanden in dem etwas anderes zum Essen war. Yuri war als erster fertig und streckte sich. Dann ging er Richtung Ausgang. Erst jetzt erwachte Vlädd. Er richtete sich auf, grunzte und rülpste schließlich laut. „Gebt mir was zum Fressen!“ brüllte er in den Raum. Von irgend woher wurde ihm eine Dose warmer Bohnen gereicht, die er dann schmatzend begann zu leeren.
Gruscha erhob sich und ging hinter Yuri her. Sie erreichte kurz nach ihm das Stahlgitter. Das Tor stand offen. Yuri drehte sich zu ihr um: „Gruscha du weißt genau, dass das Tor auch tagsüber geschlossen bleiben muss!“ Er sprach leise und überlegt, ganz anders als sein Bruder Vlädd. Aber seine Stimme hatte dadurch etwas kaltes, berechnendes an sich. „Ich...das Tor war zu als ich gegangen bin!“, Gruscha konnte es nicht fassen. Sie glaubte Yuri erlaubte sich einen bösen Scherz mit ihr. „Dann hat sich die Kette also von alleine abgewickelt und die Riegel sind einfach so aufgesprungen! Ich glaube dir zwar, dass dich der Angriff gestern schockiert hat aber wir haben nicht überlebt, weil wir unvorsichtig gewesen sind.Also achte darauf, dass du das Tor wieder zu machst wenn du das Schloss verlässt.“ Yuri sprach immer vom Schloss. Es gab ihm das Gefühl nicht leben zu müssen wie eine Ratte.
Gruscha nickte zerknirscht. Sie war sich sicher, dass das Tor verschlossen war als sie Elenia folgte. Sie überlegte. Sollte ihr Erinnerungsvermögen verrückt spielen? Hatte sie gedankenverloren das Tor geöffnet und vergessen es wieder zu schließen? Ein anderer Gedanke den sie nicht wahr haben wollte manifestierte sich. Es gibt hier etwas, was uns tot sehen möchte. Etwas menschliches was kalt und berechnend ist. Es plant wie es uns umbringen wird. Sie musste Yuri davon erzählen. Doch er würde ihr nicht glauben, wenn sie keine stichhaltigen Beweise vorbringen konnte.
Yuri verschwand durch das Tor und zwischen einige Büsche. Gruscha stand kurze Zeit unschlüssig und überlegte ob sie gehen sollte. Was würde sie machen wenn sie nichts fand? Und viel wichtiger, was würde sie machen wenn sie etwas fand? Bisher hatte sich keiner die Mühe gemacht die Spuren des Kampfes in der Nacht zu beseitigen. Die beiden verkohlten Kadaver lagen immer noch vor dem Gitter. Mittlerweile taten sich einige Krähen daran gütlich. Sie schreckten auf als Gruscha durch das Tor schritt und schrien wütend. Zögernd ging sie auf die Stelle zu an der sie gestern den Schatten gesehen hatte.
Als sie die Bäume erreichte war es nicht zu übersehen. Jemand oder etwas hatte einen blutigen Handabdruck auf der Rückseite der Bäume hinterlassen. Auch die Spuren einer einzelnen Person die hier eine Zeit lang gestanden hatte waren nicht zu übersehen. Sie führten allerdings nur vom Lager weg. Es gab keine Spuren, im Sand vor der Kanalisation, die darauf schließen ließen, wie der Beobachter hierher gekommen war.
Gruscha spürte den beruhigenden Griff ihrer Peitsche in der Hand und folgte der sich entfernenden Spur. Immer weiter führte sie vom Eingang in die Kanalisation weg. Ihre Anspannung wuchs und ihre Sinne schärften sich. Trotz ihrer Müdigkeit war ihr Körper zum Zerreißen gespannt. Auf einmal schrie wieder eine Krähe auf und flatterte dicht vor ihr auf den Boden. Eine zweite und dritte Krähe folgten dem Beispiel. Diese hässlichen Vögel waren eine Art Vorbote des Unheils und sie starrten Gruscha direkt an.
Sie fühlte sich unbehaglich und beobachtet. Mittlerweile hatte sie sich auch ein ganzes Stück vom Lager entfernt. Langsam tastete sie an ihrem Gürtel, und löste die Peitsche. Die Vögel bewegten sich nicht. Sie hockten einfach nur da, starrten sie aus toten, schwarzen Augen an und versperrten ihr den weiteren Weg. Gruscha lies ihre Peitsche knallen. Unter wütendem Protestgeschrei stoben die drei Vögel auseinander. Die Spannung die in der Luft lag konnte man fühlen. Gruscha wollte der Spur nun weiter folgen. Ihr Unbehagen wuchs als sie den Boden betrachtete. Da wo die Krähen gehockt hatten endete die Spur. Es schien, als ob der nächtliche Beobachter seine Flügel ausgebreitet hätte und los geflogen wäre.
Das konnte nicht sein. Niemand hinterließ Fußabdrücke um dann weg zufliegen. Gruscha sah sich suchend um und bemerkte, dass sie in einem Wald von abgestorbenen Bäumen und Gestrüpp stand. Eine Art Park in Mitten der Schuttwüste der zerstörten Stadt. Es knackte neben ihr in den Büschen. Sie schnellte herum, die Peitsche noch immer in der Hand und zum Schlag bereit.
Doch da war nichts. Sie redet sich ein, ihre Nerven seien überstrapaziert von der ständigen Bedrohung und insbesondere vom Angriff in der letzten Nacht. Gruscha machte sich auf den Weg zurück zum Lager. Sie folgte dabei in umgekehrter Weise den Fußspuren im Sand.